Donnerstag, 27. Dezember 2007

Das Kind im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Rebellion

Vortrag vom 19.04.2004 im SPZ Coburg
Wir sind um unsere Kinder besorgt, wir werden zunehmend mit ihren Anliegen konfrontiert,
Sie entwickeln immer mehr Ängste!
Sie werden hyperaktiv!
Sie werden sozial auffällig und
Sie versagen in der Schule trotz ausreichender Intelligenz.

Wir Ärzte, Lehrer, Erzieher und Eltern sind seit Jahren mit diesem Phänomen konfrontiert. Wir können die vielfach gestellten Fragen nicht ausreichend beantworten oder aber wir suchen die Antworten da, wo wir gewöhnt sind, sie zu suchen, nämlich in Monokausalität und in Findung einer organischen Erkrankung.
Wir fordern mehr Lehrer, mehr Freiräume, mehr Leistung und Motivation von den Kindern oder stellen ihnen neuerdings Motivationstrainer und außerschulische Förder-Systeme zur Verfügung. Die Therapeuten- und Ärztezahlen mit speziellen Fachgebieten steigen ständig und wir fordern, bzw. stellen immer höheren Bedarf. Es kommen immer mehr Alternativtherapien hinzu, die die Unsicherheiten der Eltern durch magische Versprechungen zu zerstreuen versuchen und sie gaukeln teilweise schnelle und unkonventionelle Hilfe vor.
Man fragt sich immer wieder, was ist es denn los mit unseren Kindern, mit den Eltern oder Lehrern. Nicht selten werden auch Sündenböcke für die negative Entwicklung gesucht wie z. Zt. Lehrer und dann Ärzte, dann Eltern. Auch die Gesellschaft muss immer wieder für diese negative Entwicklung herhalten.
Wenn man die Entwicklung allerdings nüchtern betrachtet, stellt man fest, dass
unsere Kinder in Not sind,
nicht weil sie hungern und nicht weil sie von einer Epidemie bedroht sind, sondern
weil wir sie wie nie zuvor mit unseren Erwartungen überfordern, mit unseren Projektionen überladen und mit unserem Narzissmus desorientieren.

Wir wollen sehr tüchtige, sehr gesunde und sehr intelligente Kinder!

Und viele Eltern sind bemüht, diese Ziele um jeden Preis zu erreichen, obwohl
ihre Belastungen größer,
ihre Zeit knapper,
ihre Unsicherheiten im beruflicher und familiärer Hinsicht größer
geworden sind!

Auch wir Mediziner begnügen uns im Zeitalter der Überversorgung nicht mehr mit effektiver Bekämpfung von Infektionskrankheiten und mit ihrer Prävention und nicht mit optimalen hygienischen Voraussetzungen und nicht mit hervorragenden Erfolgen in der Intensivmedizin, sondern
wir wollen jeden Ansatz einer Bedrohung im Keim ersticken!
wir wollen jeden Ansatz einer sich anbahnenden, chronischen Erkrankung immer früher bekämpfen bzw. unter Kontrolle halten! Und
wir wollen jeden Gedanken an Leid und Schmerzen schon in seiner Entstehung verhindern!

Auch bei Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten scheint sich eine ähnliche Entwicklung anzubahnen. Mit dem Konzept der Frühesterkennung, Diagnostik und Behandlung scheinen wir mit der Entwicklung im klassisch-medizinischen Sinn mithalten zu wollen.

Wir Mediziner und Eltern sind anscheinend nicht mehr bereit, uns mehr Zeit zu nehmen, Prozesse und Entwicklungen im Körperlichen und Seelischen zu beobachten. Viele erliegen dem Druck, Diagnosen schnell zu stellen und sie handeln, als ob diese Diagnosen abgesichert wären, obwohl sie sowohl von der Kausalität als auch von der Komplexität her alles andere als sicher sind. Trotz der Unsicherheiten sind die Handlungen manchmal so massiv, so dass der Verdacht entsteht, dass solche Handlungen uns Omnipotenz verleihen, denn in Zeitalter der Kundenorientierung könnte diese Aufgabe von anderen übernommen werden. So ändern sich die Dinge. Durch die Deklaration der Modernität sind nur wenige in der Lage, sich anders zu verhalten, auch Ärzte werden in die Lage versetzt, in diesen Strom mit zu schwimmen. Updaten ist die heutige Devise, es trauen sich wenige, von gestern zu sein.

Wo befinden sich unsere Kinder heute?

Kinder entwickeln sich immer in einem Spannungsfeld zwischen Anpassung und Rebellion, das ist wirklich nichts Neues. So haben sie die Möglichkeit zu lernen und neue Grenzen zu erfahren. Aber dieses Spannungsfeld gestaltet sich in seiner Breite und Flexibilität sehr unterschiedlich und zwar
zwischen Verwöhnen und Fordern!
zwischen Freiraum und Führung!
zwischen Sicherheit-geben und Loslassen
Aus diesem Spannungsfeld entwickeln sich Strukturen im Sinne einer individuellen Entwicklung. Diese geben Sicherheit und Geborgenheit, wodurch sie Fähigkeiten und Begrenzungen entwickeln können. Diese geben ihnen die Orientierung.

Was brauchen unsere Kinder?

Kinder brauchen:
Geborgenheit, in der sie die Sicherheit finden, die sie zu ihrer eigenen Sicherheit entwickeln,
Orientierung, in der sie begleitet, aber nicht festgelegt werden, d.h. auch eine Orientierung, die die eigenen Fähigkeiten und Wünsche des Kindes berücksichtigt, und
Erwartungshaltung und Forderung der Eltern und der Gesellschaft, die den Kindern Mut gibt, dass sie etwas leisten können und Bestätigung in ihren Fähigkeiten, die sie leistungsfähig macht.

Die Kinder müssen aber auch mit ihren Fähigkeiten und Einschränkungen wahrgenommen werden, d.h. es ist wichtig, dass Eltern und andere Beziehungspersonen und Erzieher sie so wahrnehmen, wie sie sind und nicht wie sie sein sollen, mit ihrem Ausdruck und ihren Äußerungen. Sie müssen mit ihren Gefühlen begriffen werden, und den Raum dafür bekommen, sie zu äußern, auch müssen sie, ihre Verhaltens- und Ausdrucksweisen richtig interpretiert erleben. Aus der sensiblen Außenwahrnehmung kann sich eine Innenwahrnehmung entwickeln, aus der die Kinder sich zu orientieren lernen. In einem Dialog der gegenseitigen Wahrnehmung, dem Mitfühlen und der adäquaten Interpretationen ihrer Verhaltensweisen und der adäquaten Reaktionen daraus entwickelt das Kind das eigene Selbst, was für die eigene Regulation mit sich und anderen außerordentlich wichtig ist.
Aus diesem Grunde ist die Begleitung des Kindes eine hochsensible Angelegenheit, sie bewegt sich zwischen Chaos und Starrheit, Regellosigkeit und starren Regeln und Verwahrlosung und Überbehütung.
Grundsätzlich sind die Polaritäten „Anpassung und Rebellion“ wichtige Elemente einer sozialen Entwicklung, mit deren Hilfe die Kinder sich und andere im Dialog wahrnehmen und sie in die Lage versetzen,
Gesellschaftliche Normen zu akzeptieren, in denen sie selbst ihren Ausdruck, ein geordnetes Feld der Existenz, des Respekts und des Lernens finden können
Regeln auf der einer Seite zu lernen, aber auch ein System zu finden, ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu äußern und das ihnen Raum gibt
Das eigene Selbst zu entwickeln, das nicht nur eine besondere Bedeutung in der psychischen Entwicklung hat, sondern auch für eine ausreichende biologische Entwicklung nötig ist, wie dies bei der Wahrnehmungs-, Sprach- und Motorikentwicklung der Fall ist.
Wichtig ist, dass das Kind auch später lernt, das Spannungsfeld „ Anpassung und Rebellion“ zu regulieren. So könnte man meinen, dass
Auffälligkeiten in der Wahrnehmung einem Defizit in der Entwicklung der Selbstwahrnehmung bzw. des eigenen und gegenseitigen Spürens zugrunde liegt
Hyperaktivität mit einem Defizit der basalen Sicherheit zu tun hätte
Aufmerksamkeitsstörung auf ein Defizit in der gegenseitigen Aufmerksamkeit hinweist und
Sprachverzögerung auf ein Defizit in der Kommunikation zurückgeht.

Störungen können sich aber auch aus den Polaritäten der Anpassung und Rebellion entwickeln. Aus Anpassung kann sich eine zu enge bzw. zu starre Anpassung entwickeln, was zum eigenen Selbstverlust führen kann, woraus sich wiederum Angst, Rückzug und Depression entwickeln können. Rebellion, die sich entweder aus der rigiden Starrheit oder aus der Desorientierung im Beziehungssystem entwickelt, kann in eine starre Rebellion einmünden und zu einem dauerhaften Verlust der eigenen Steuerung führen, woraus sich Unruhe oder soziale Störungen entwickeln könnten.

Starre Anpassung bedeutet enge Wahrnehmung auf das Wesentliche, was in vieler Hinsicht, was Leistung betrifft, positiv ist, aber generell und auf Dauer kostet diese Art die „breite Wahrnehmung“. Hier kann bei einer Konzentration auf die Elemente der Anpassung die dialogische Fähigkeit und Kritikfähigkeit des Kindes verloren gehen, was mir in der Autonomieentwicklung wichtiger erscheint als die Leistungserbringung selbst. Denn darin sehe ich die kreative Entwicklung gefährdet.
Bei einer starren Rebellion besteht eher die Gefahr einer diffusen Wahrnehmung, Desorientierung und Fehlentwicklung von Distanz und Nähe. Die für manche Eltern als Individualität falsch interpretierte Ausdruckform ist nichts anderes als ein starrer ständiger Widerspruch, der das Kind in der Sackgasse des Trotzes hält. Auch hier sind kein Lernen und kein Dialog möglich. Ich sehe darin einen projizierten Wunsch der Entfaltung und Freiheit der Eltern und weniger eine positive Entwicklung.

Jetzt möchte ich drei Themen anschneiden, die ich für eine Gefährdung der kindlichen Entwicklung halte:
Die kontraphobische Erziehung in unserem sozialen System heute
Die kontrollierende Erziehung im elterlichen System, und
Das Wegschauen als kontraproduktives Phänomen zur Vermeidung von Entwicklungsstörungen

Die kontraphobische Erziehung:
Nach vielen Jahren einer engen und restriktiven Erziehung durch frühere Generationen, bei der man oft eingrenzend handelte und manchmal zu lange wartete, bahnte sich an, dass Eltern aufgrund ihres größeren Wohlstandes, ihres Wissens und ihrer neuen Möglichkeiten sich mehr mit Erziehung und Gesundheit des Kindes beschäftigen konnten. Sicher sind durch die positive Kontextualisierung den Kindern neue Möglichkeiten gegeben worden, was sich auf ihre Fertigkeiten auswirkt. Auch durch den Geburtenrückgang konnte man sich mehr auf das Wohlbefinden der Kinder und ihre Zukunft konzentrieren. Was im Grunde also eine gute Umorientierung ist, entwickelt sich immer weiter zu einer Sackgasse, denn die besseren funktionellen Voraussetzungen führen nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der Leistungen, zu Gesundheit und zum Glück der Kinder.
So wie wir medizinisch zum Teil auch massive Maßnahmen ergreifen, um den Hauch eines Beginns einer Erkrankung zu verhindern suchen, so verhalten sich auch Eltern. Sie tun alles Mögliche, um im Voraus eine gute Entwicklung zu planen. Am liebsten würden sie heute ihren Kindern
Schwierigkeiten ersparen
Leid vermeiden
Auseinandersetzungen verhindern
Das Ebnen der Wege, das Organisieren der Schule und Freizeit, das Glätten der Spielplätze schaffen Voraussetzungen, die Kinder kaum oder wenig zu fordern, so dass sie wenig eigene Strukturen entwickeln können. Gleichzeitig aber wollen wir, dass unsere Kinder mutig, intelligent und tüchtig sind, am liebsten, ohne dass sie etwas durchmachen müssen, was bedrohlich oder gefährlich sein könnte. Sie sind Tag für Tag durchorganisiert und bekommen jede denkbare Hilfe, um sie dahin zu versetzen, wo man sie hin haben will.

Das ist ja alles verständlich, denn Risiko war vor nicht allzu langer Zeit teuer und sehr schmerzhaft, ja sogar existenzgefährdend. Das ist heute nicht mehr der Fall. Aber wir bekämpfen die Gefahr von gestern mit den Waffen von heute. Weitsicht, Abwarten und Toleranz werden bei Medizinern, Eltern und Pädagogen weniger. Sowohl Politiker, als auch Ökonomen reagieren und normieren schnell und passen sich allem an, sobald sich Risiko oder Widerstand zeigt.

Mit welchem Phänomen haben wir es zu tun? Wir finden Lösungen, bevor wir wirkliche Probleme haben, wir reden von Hochbegabung, bevor wir begreifen, was Begabung bedeutet und wir freuen uns nicht einfach nur an unserem Kind, sondern an dem, was aus ihm werden könnte.

Haben wir es in der Tat mit einer kontraphobischen Gesellschaft zu tun, die uns sagt, dass wir Probleme nicht zu haben brauchen, die uns zu Lösungen zwingt. So verlieren wir unsere Zurückhaltung, Angst und Respekt vor Auseinandersetzungen und Prozessen, an denen unsere Kinder wachsen könnten. Keiner will zu den ewig Gestrigen gehören und langsam handeln. Langsamsein ist negativ belegt, denn wir favorisieren die moderne und schnelle Gesellschaft. Auch die Schule sortiert diese Kinder heraus, sie will schnell und zielgerichtet arbeiten.
Ein Problem bleibt jedoch zurück Wir werden auf diese Weise intoleranter, nicht nur in unseren Vorstellungen, wie die Kinder sein sollen, sondern auch darin was und wie sie leisten und sich verhalten sollen. Selbstverständlich gehört es auch zu diesen Vorstellungen, dass unsere Kinder glücklich sein sollen.

Was bedeutet das für uns?
Normierung und Normdruck
Überbehütung und Kontrolle
Enge Erwartungshaltung und hoher Erwartungsdruck

Wir erleben einen massiven Druck, in Familie, Schule und Gesellschaft. Pisa löste eine Welle der Empörung aus, da wir glauben zu wissen
Dass tüchtige und fleißige Schüler auch tüchtige und fleißige Erwachsene werden,
Dass leistungsfähige Schüler auch leistungsfähige Erwachsene werden und
Dass leistungsstarke Kinder glückliche Erwachsene bzw. Eltern ergeben werden.

Woher haben wir diese Gewissheit, dass Intellektualisierung die Menschen im Berufsleben tüchtiger macht und dass intelligente Kinder auch lebensfähige Menschen werden? Woher wissen wir, dass sprachlich begabte Kinder die einzig tüchtigen Menschen der Gesellschaft werden. Sind wir dabei den Maßstab zu verlieren, woraus eine soziale und lebensfähige Gesellschaft besteht und wie sie sein soll?
Ich möchte behaupten, dass es für die Kinder schwierig ist, die zu engen Erwartungen der Eltern oder sonstigen Erwachsenen
und die durch Verflachung der Beziehungsstrukturen unverbindlichen, zu funktionellen Angebote zu vereinbaren, die sie erleben. Denn Leistung und Beziehung hören nicht einmal im Erwachsenenalter auf. Eine Leistungsorientierung ist ohne Beziehungsorientierung kaum möglich.
Insofern verändert eine kontraphobische Erziehung die Voraussetzungen für die Kinder. Die Zielorientierung, die Normierung und zweckorientierte Beziehung verhindern eine ausreichende Inanspruchnahme des Spektrums Anpassung / Rebellion. Die Kinder haben Ziele, bevor sie sich auseinandersetzen und sie passen sich an, bevor sie sich ausgedrückt haben und sie rebellieren, bevor sie sich auseinandergesetzt haben.

Die kontrollierende Erziehung:
Eltern machen sich schon große Sorgen um ihre Kinder, wenn diese als Säuglinge auffälliges bzw. anormales Verhalten zeigen könnten, z.B. löst bereits das Schreien im Säuglingsalter Ängste aus, ob das ein Signal in Richtung spätere soziale Störung zu bedeuten hätte.
Die Kinder werden viel genauer und intensiver beobachtet, ihr Verhalten wird verglichen, sogar mit irgendwelchen Normtabellen, anstatt sich Gedanken zu machen, weshalb das Kind schreit oder in welchem Zusammenhang dieses Verhalten stehen könnte. Es entwickeln sich Zukunftsängste und der Drang dies zu beeinflussen bzw. zu verändern, bevor man dies versteht oder besser, bevor sich so ein Verhalten oder eine Entwicklung manifestiert. Die Tipps, wie man ein solches Verhalten beeinflusst, sind gefragter als das Verhalten zu verstehen. Diese Entwicklung löst eine besondere Aufmerksamkeit aus, die in eine ständige Kontrolle einmündet. Diese Kontrolle kann zu einer Behinderung des Selbst des Kindes führen. Die Beobachtung, die sich zumeist darauf richtet „normale Kinder“ zu erziehen, lässt den Kindern kaum Möglichkeiten, sich weder zurückzunehmen oder zu rebellieren. Die Normvorstellungen sind heute eng geworden. Schon die ständige klare Vorstellung von dem, wie die Kinder werden sollen, engt sie in ihrer Entfaltung. Kontrollierende Erziehung verläuft heute unauffälliger und umfassender, da inzwischen jeder weiß, dass man Kinder nicht extrem kontrollieren darf. Die Kontrolle dringt in viele Bereiche ein und beraubt das Kind seiner Autonomie und seiner Entfaltung. Man nimmt viel und überall Einfluss. In der Schule geht es dann nicht um die notwendige Unterstützung bei einer Benachteiligung des eigenen Kindes durch andere, sondern um Grenzüberschreitung. Das Kind wird seines eigenen Bereichs beraubt, in dem es die Fortsetzung des elterlichen Systems in der Schule erlebt. Das versetzt es in die Lage, den Eltern mehr zu verheimlichen oder sich auf eine andere möglicherweise rebellischere Art zu wehren. Soziale Störungen oder Unruhe können die Folge sein.
Auch die Freizeit ist nicht unbedingt den Kindern vorbehalten, denn es gibt heute kaum Möglichkeiten, dass Kinder, ohne das Wissen der Eltern etwas tun. Die mobilen Telefone sind nicht immer eine Hilfe in Not.

Die zwecklosen Beziehungsangebote dem Kind gegenüber werden immer mehr durch die zweckgebundenen Beziehungsangebote ersetzt, was zu mehr Funktionalisierung der Beziehung und kontrollierender Erziehung führen kann. Die Beziehungsangebote können aber auch so unverbindlich und zwiespältig erfolgen, dass das Kind immer mehr Kontrolle und Beziehungsarmut erlebt, was ihnen in der Entwicklung ihrer Orientierung kaum hilft.
In einigen Familien trägt die Kontrolle der Mutter und der häufig fehlende Vater zu einer orientierungslosen Erziehung bei, bei der die Mutter versucht, alles zu kompensieren, was fehlt und sich somit überfordert und Väter, die sich unter der Schuldfrage weiter zurückziehen. Sie verwickeln sich aus Verletzung in Konflikte oder werden teilweise in der Beziehung zu ihren Kindern abgeschnitten werden, so wie wir es bei vielen Trennungsfamilien sehen. Diese Funktionalisierung des Kindes im Konflikt der sich trennenden oder getrennten Eltern hat in der Regel große negative Auswirkung auf die emotionale Entwicklung des Kindes.
Eine kontrollierende Erziehung unterstützt maßgeblich die Anpassung auf Kosten der Kreativität.

Das elterliche Wegschauen:
So wie es wichtig ist, das Kind mit seinen Bedürfnissen und Mitteilungen zu registrieren und adäquat darauf zu reagieren, ist das Phänomen des Wegschauens eine Abwehrmöglichkeit der Eltern, unangenehmes oder unerwünschtes Verhalten bei ihrem Kind zu tolerieren. Obwohl das negative Verhalten des Kindes manchmal sehr deutlich ist und sie von anderen darauf hingewiesen werden, tendieren Eltern dazu entweder diese Außenbeobachtungen zu ignorieren oder sie anders zu interpretieren. Das scheint eine Möglichkeit zu sein, das eigene Leid zu verdrängen, das mit einer solchen Wahrnehmung verbunden sein kann. Das Wegschauen kann aber beim Kind zu einer Desorientierung führen. Es reagiert darauf mit einer Verstärkung seines negativen Verhaltens, um die Aufmerksamkeit auf sich oder das Problem zu lenken oder um zu erfahren, ob ihr Verhalten im Sinne der Wegschauens eine reale Botschaft der Eltern ist und somit als gewünschtes Verhalten gilt. In diesem Fall spielt es keine Rolle, ob es sich um bewusstes oder unbewusstes Verhalten der Eltern handelt.
Die Aufrechterhaltung dieses Verhalten kann auch bedeuten, dass das Kind die Situation eskalieren lässt, um die Eltern oder andere Bezugpersonen zu zwingen auf das eigene Leid oder ihr Problem hinzuschauen. Das Wegschauen kann auch eine Möglichkeit sein, eigene verdrängte Wünsche der Eltern im Kind realisiert zu sehen, wie eigener fehlender Mut oder Grenzüberschreitung in der eigenen Kindheit. Durch das Verhalten des Kindes erlangen sie eine indirekte Befriedigung ihres Tuns oder ihrer Wünsche. Dass hier Tür und Tor für eine orientierungslose Rebellion des Kindes offen ist, kann einen nicht verwundern. Die Rebellion ist dann Ausdruck der Desorientierung, der Wut und des Chaos.
Hinschauen und Hinhören sind wichtige Beziehungsgerüste, in denen die Kinder sich wahrgenommen fühlen, sie entwickeln darauf ihr Verhalten und ihre Kommunikationsmuster.
Das Wegschauen unterstützt eine rebellischen Entwicklung, denn die Beziehung ist die wichtigste Begleitung und somit ein wichtiger Regulator des Verhaltens eines Kindes.
Anpassung und Rebellion bilden, wie ich meine, ein Spektrum, in dem sich die Kinder entwickeln. Weder die Förderung der Anpassung noch der Rebellion sind allein als Erziehungsform ausreichend, die Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Toleranz, Offenheit, Struktur, Kontrolle, Veränderungsbereitschaft und zweckfreie Beziehungsangebote sind wichtig für Entwicklung unserer Kinder, die z. Zt. Eine Herausforderung erleben, in einer in starker Veränderung begriffenen Gesellschaft, die sich selbst im Übergang befindet, zwischen Toleranz und Freiheit auf der einen Seite und Angst und Kontrolle auf der anderen Seite.

Auch die Eltern befinden sich im Übergang, denn sie müssen heute einen Spagat leisten, zwischen eigener Erziehung, in der sie häufig mehr Geborgenheit aber Restriktion erlebten und der heutigen Erziehungsvorstellungen, in denen sowohl materiell als auch strukturell fast alles realisierbar erscheint.

Diese Unsicherheit in der heutigen Zeit sollte uns jedoch nicht dahin verleiten, uns als omnipotent zu fühlen, um Scheinlösungen für noch ungelöste Probleme zu konstruieren. Dies berechtigt uns erst nicht dazu, alles was im Fluss ist, als Krankheit oder Störung zu deklarieren oder zu früh Rückschlüsse über unsere Kinder zu ziehen, eher sollen wir einiges als eine Chance für eine positive Entwicklung oder als ein Signal für eine Risikoentwicklung erkennen, die uns herausfordert, neue Anpassungen aus der heutigen Sicht zu entwickeln oder rebellisch aus eingefahrenen Strukturen heraus zu brechen und neue adäquatere Strukturen zu finden.

Dr. med. Saadi Jawad

Mittwoch, 26. Dezember 2007

Wahrnehmung und Kontakt in der Behandlung entwicklungsauffälliger Kinder

Einleitung
Wir diagnosezieren und behandeln Kinder mit Wahrnehmungsstörung in der Regel funktional, da wir aus einer Hypothese ausgehen, alles was klinisch festgemacht oder gemessen wird, objektiv und funktional ist, so dass auch entsprechende Methoden zu Behandlung eingesetzt werden, die ebenso funktional sind. Dieses medizinisch orientierte System entspringt aus dem Ursache – Wirkung – Modell, das uns besagt, dass zur Behandlung eine oder mehrere Ursache(n) festzumachen wären, die direkt angegangen werden sollen.

Beispiele:
1. ein bakterielle Infektion ergibt eine antibiotische Behandlung!
2. eine Cerebralparese ergibt eine physiotherapeutische Behandlung!
3. eine Wahrnehmungsstörung ergibt eine funktionelle Behandlung!

Bleiben wir bei dieser Hierarchie, so ist es interessant diese Beispiele zu kontextualisieren:
1. Eine medizinische Krankheit erfordert eine direkte Behandlung, hier ist der Fokus genau definiert, eine bakterielle Infektion erfordert eine antibiotische Behandlung! Darüber würden sich die wenigsten streiten!
2. Bei der CP wird es kritischer, denn eine physiotherapeutische Behandlung allein macht noch keine ausreichende Voraussetzung zur Förderung motorischer Funktionen, zusätzliche Maßnahmen wie Kontakt und Ganzheitlichkeit in der Behandlung sind wichtige Bestandteile einer Therapie, ohne die der Zugang zur Motorik evtl. versperrt bleibt!
3. Bei einer Wahrnehmungsstörung wird die Kontextualisierung noch schwieriger, wenn wir nur funktional arbeiten würden. Kontakt, Beziehung und Beziehung scheinen auch unter den funktional orientierten Therapeuten gebräuchliche Begriffe geworden zu sein.
4. Bei emotional und sozial auffälligen Kindern setzt man die Priorität deutlicher auf die psychosoziale Ebene d.h. Kontakt und Beziehung sind wesentliche Faktoren zur Behandlung solcher Kinder. Funktionelle Faktoren soll in der Regel Werkzeuge zur Realisierung des Hauptzieles im psycho - emotionalen und sozialen Bereich.
Seit Frostig, Ayres und Affolter hat sich eine Entwicklung angebahnt, Wahrnehmungsstörungen immer mehr funktionaler zu betrachten und behandeln, und es kommen immer mehr Störungen aus dem psychisch – emotionalen und sozialen Bereich hinzu, die immer mehr funktionell erklärt werden, so dass wir schon jetzt von einer Funktionalisierung psychischer, emotionaler und sozialer Probleme sprechen können.
Also wir haben mit einer Umkehrung der Situation zu tun. Vieles auch Fragliches wurde früher zu Psychogese gezählt, heute findet eine Umkehrung statt. Das Interesse an Beziehung, Kontakt und Dynamik psychischer Strukturen läßt nach, es etabilieren sich funktionlaer und organisch erklärte Modelle, sowie wir es bei der Eskalierung bei den hyperkinetischen Störungen, indem inzwischen modern ist alles was mit Aufmerksamkeits - und Unruhe - Problemen als funktionell – organisch zu erklären und definieren. Beziehungsprobleme werden z.Zt. derart ignoriert, so dass man langsam Sorge entwickelt, wie es mit diesen Kindern bestellt sein wird, wenn wir alle „ in diesen Strom mitschwimmen“ würden „.


Wie entwickelt sich die Wahrnehmung?
Die Wahrnehmung eines Kindes entwickelt sich aus zwei wichtigen Faktoren
1. Reife der organischen Strukturen
2. Bedeutung dieser in Hinsicht auf ihrem Einsatz ( funktionelle Bedeutung) und Beziehung (sozialer Bedeutung)
Funktionelle Unreife behindert soziale Bedürfnisse und umgekehrt soziale Unreife behindert die funktionellen Bedürfnisse und somit die Entwicklung.

Wir beobachten bei Therapien häufig, dass:
· Kinder mit Wahrnehmungsstörung öfter Probleme im sozialen Bereich haben, sodass es erst wichtig wird, mit ihnen Kontakt herzustellen!
· Kinder mit sozio – emotionalen Problemen häufig Auffälligkeiten im sensorischen Bereich zeigen, jedoch mit Problemen im taktilen Bereich wie z.B. Abwehr oder Distanzlosigkeit, im propriozeptiven, indem sie propriozeptive Reizen aufsaugen oder im vestibulären Bereich wie Unterinformation, die ständig rennen, sich zurückziehen oder verharren.

Unabhängig von der primären Störung( sensorisch oder sozio – emotional ) sollte man sich fragen,
wie Wahrnehmung und Kontaktverhalten des Kindes zueinander stehen?
1. Bei primär wahrnehmungsauffälligen Kindern:
1.1 In Einzelsituation
· Input
· wie geht das Kind mit (Kontakt)-Angeboten um?
· wie ist der Blickkontakt bei der Begegnung?
· wie geht es mit Aufforderungen um?
· Output
· wie zeigt es eigene Bedürfnisse? Welche Signale, welche Form? Auf welchen Weg? Verhalten, Handlungen, Sprache?
· wie verhält sich, wenn man auf diese nicht eingeht? macht es auf sich weiter aufmerksam? Negativ oder positiv? Zieht es zurück?
· wie holt sich das Kind sein sensorisches Bedürfnis, so dass es angefaßt angeschaut oder gehört wird?

1.2 In Gruppensituation
wir haben mit folgenden Konstellation:
· ein Therapeut und zwei Kinder
· zwei Therapeuten und zwei Kinder und
· ein oder mehrere Therapeuten und mehr als zwei Kinder
In der Gruppensituation sind mehrere Konstellation möglich,
· Handelt es sich um eine dyadische oder triadische ...Beziehung?
· Agieren die Kinder für sich ohne Bezug zur Therapeutin?
· Beziehen die Kinder die Therapeutin ein, wenn ja, dann wie?
· lassen sie sich auf Abgebote ein oder verhindern sie sie?
· was bewirkt der Input der Therapeutin? Ordnet bzw. führt zu einer gewissen Ordnung oder bewirkt eine positive Dynamik?
· Wie gehen die Kinder mit dem Input weiter um? polen sie den Input in destruktive Dynamik um?

Systemische Therapie in der Behandlung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten

Zusammenfassung
Es ist nicht nur die Frage, wie das Familiensystem die kindliche Entwicklung beeinflußt, sondern, wie sich Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung auf die Familiendynamik und ihre Organisation auswirken.
Die interaktive Dynamik zwischen kindlichem System, Familiensystem und Therapiesystem führt nicht selten zu einer Therapiestagnation, welche ihre Auswirkung in nicht ausreichenden oder fehlenden Entwicklungsfortschritten des Kindes in der Therapie zeigt.
Unser Konzept liegt in der Bereicherung dieser Therapien ( Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie ...etc.) durch die systemische Perspektive und orientiert sich an der Dynamik des Therapiesystems. Diese Therapiedynamik gibt uns Informationen über die Qualität der systemübergreifenden Dynamik und zeigt Wege auf, bezüglich einer erforderlichen Veränderung der Rolle des Therapeuten im Therapiesystem. Sie hilft uns, aus der Störung herauszukommen und die Möglichkeiten einer funktionellen Therapie zu vergrößern, damit das Kind in der Lage sein wird, funktionell zu lernen.

Literatur:
· Ayres, J. Bausteine der kindlichen Entwicklung. Heidelberg (Springer) 1984
· Bobath, B.: Abnorme Haltungsreflexe bei Gehirnschäden. Stuttgart (Thieme)
· Bateson, G. : Ökologie des Geistes. Suhrkamp 1981
· Bateson, G. : Geist und Natur. Suhrkamp 1987
· Jawad, S.: Entwicklungsauffälligkeit- Beziehung- System. Frühförderung interdisziplinär
1997
· Jawad, S.: Spielräume in der Kindertherapie. Frühförderung interdisziplinär 1997
· Jawad, S.: Entwicklungsauffälligkeit, Beziehung und System- Integration systemischer Therapie in die interdisziplinäre Frühförderung- Seminar im 8. Symposion Frühförderung 16.-18.03-95 Berlin.
· Jawad, S.: Stolpersteine der kindlichen Entwicklung- unveröffentlichtes Manuskript
· Jawad, S., H. Fischer: Bobath- Therapie im Kontext des Familiensystems. In: Viebrock H., Brandl, U.(Hrsg): Neurophysiologie cerebraler Bewegungsstörungen und Bobath- Therapie. Vereinigung der Bobath- Therapeuten Deutschland e.V. 1997
· Jawad, S., E. Grünauer, H. Welz- Smettan, B. Abe: Interdisziplinäres Fallgespräch: Diagnostische Einschätzung- und mögliche Interventionen- Teilleistungsschwäche und Beziehung- Vortrag im Münchner Symposion Frühförderung 28./29.04.1994
· Ludewig, K.: (1992): Systemische Therapie- Stuttgart ( Klett-Cotta)
· Maturana, H.- R. (1994) : Was ist erkennen ? München (Piper)
· Maturana, H.- R., F. Varela (1987): Der Baum der Erkenntnis- Bern, München, Wien ( Scherz)
· Simon, F. B. ( 1997): Die Kunst, nicht zu lernen. Heidelberg ( Carl Auer )
· Varela, F. J.: ( 1987) Autonomie und Autopoiese. In: Schmidt, S.J.(Hrsg.): Der Diskurs des radikalen Kontruktivismus . Frankfurt a. M. ( Suhrkamp).

Dr. med. Saadi Jawad
Sozialpädiatrisches Zentrum
Elsässer Str. 9
D-96450 Coburg

Veröffentlichung in "Frühförderung interdisziplinär" 20.Jg., S. 20-33 (2001)
Ernst Reinhard Verlag München Basel